Vielsaitiges Jodeln – zwei Konzerte in der Kirche Stein

Überraschend und bodenständig

Hanspeter Spörri
Das Schötze-Chörli und die Innerrhoder Streichmusik «Vielsaitig» beim grossen Finale, dirigiert von Myriam Birrer.

Das Schötze-Chörli Stein ist seit seiner Gründung vor mehr als 50 Jahren nicht nur der Tradition verpflichtet, sondern war immer in irgendeiner Weise experimentierfreudig und wagemutig. So war man gespannt, wie es seinem Ruf diesmal gerecht zu werden gedachte.

Zweimal war die Kirche Stein am vergangenen Wochenende fast bis auf den letzten Platz besetzt. «Vielseitiges Jodeln» verhiess die Vorankündigung der beiden Konzerte. Bereits beim Einmarsch mit einem Zäuerli war klar: da wird sich Überraschendes ereignen. Aufstellung nahmen auch die fünf fröhlichen Frauen der Innerrhoder Originalstreichmusik «Vielsaitig» und das Buebechörli Stein. Dieses bestritt den ersten Block mit Zäuerli und Jodelliedern und demonstrierte, dass der Nachwuchs mit sennischem Selbstbewusstsein und grossem Talent ausgestattet ist. Die eine oder andere Stimme wird sicher in den nächsten Jahren das Schötze-Chörli verstärken.

«Vielsaitig» wurden im zweiten Programmteil ihrem Namen gerecht, einerseits mit typischen Appenzeller Stücken, die mit ihren wunderbaren Tonarten-Wechseln wie ein Spiegel appenzellischer Landschaft und Seele wirken: lieblich, sanft, munter, dann aber auf einmal schattig, schroff, melancholisch. Anderseits überraschten die Frauen mit einer rassigen Melodie aus dem Tessin und einer nordischen Weise und demonstrierten eine weitere appenzellische Tradition: Einflüsse aus aller Welt zu integrieren.

Dann war das Schötze-Chörli an der Reihe. Aber wohin mit den fünf Musikerinnen, die später nochmals zum Einsatz kommen sollten? Die Mannen des Schötze-Chörli hoben unerwartet die Holzbühne mitsamt den fünf Fauen und ihren Instrumenten in die Höhe, platzierten sie vor der Orgel, hoch über den Köpfen der Sänger.
Dem perplexen Publikum bot sich ein prächtiger Anblick.

«Rond om de Säntis», ein Jodellied von Dölf Mettler, der einst auch das Schötze-Chörli dirigiert hatte, gleicht einer Liebeserklärung des 2015 verstorbenen Komponisten an seine Heimat und wirkte wie sein musikalisches Vermächtnis. Dann das Zäuerli «Vo de Lenggere», komponiert von Präsident Andreas Meier für das letzte Nordostschweizerische Jodlerfest in Winterthur. Als Zuhörer tauchte man in ein Klangbad, überliess sich den heftigen und tiefen Emotionen, welche diese Töne auslösen.

Während des ganzen Konzerts sass Myriam Birrer, die in Zug wohnhafte Dirigentin, in höchster Konzentration an ihrem Platz. Erst als sich Schötze-Chörli und Buebechörli gemeinsam aufstellten, trat sie vor den Chor. Von der Kanzel vernahm man zunächst nur die wunderbar reine Stimme von Remo, einem Mitglied des Buebechörli, dann stimmte Andreas Meier ein, dann beide Chöre. Es war sozusagen ein norwegisches Zäuerli, Bruremarsj fra Sørfold – der Hochzeitsmarsch von Sørfold, einem kleinen Dorf im Norden Norwegens. Die ergreifende Melodie ist fast schmerzhaft schön, einzelne Passagen wirken dissonant und doch stimmig. Als Appenzeller ist man mit der Wehmut, die in dieser Melodie zum Ausdruck kommt, zwar vertraut, und doch versetzten einen die Klänge in eine unbekannte Welt. Das Schötze- und Buebe-Chörli und die Streichmusik-Frauen meisterten die nordische Weise mit Bravour.

Ein grossartiger Höhepunkt eines wunderbaren Konzerts.

Das Schötze-Chörli hat vor einem kenntnisreichen Publikum ein weiteres Mal gezeigt, wie man Traditionen bewahrt: nicht indem man sie konserviert, sondern indem man ihnen immer wieder neues Leben einhaucht – oder «indem man nicht die Asche bewahrt, sondern das Feuer weitergibt», wie Myriam Birrer nach dem Konzert im «Ochsen» sagte, wo viele noch kurz zusammensassen, bevor sie sich auf den Heimweg begaben

Im November 2019 – Hanspeter Spörri